"Oktoberfrühling" Dokumente eines Aufbruchs

29.08.2010 09:37 (zuletzt bearbeitet: 29.08.2010 09:37)
avatar  Angelo
#1
avatar

"Wir haben es aus der Zeitung erfahren, 'Neuer Tag' hieß sie damals noch und neuartige Nachrichten begannen gerade erst, sich Raum zu verschaffen: Der Kreisausschuss der Nationalen Front lädt zu einem öffentlichen Podiumsgespräch am 26. Oktober 1989 in das Klubhaus 'Völkerfreundschaft' unter dem Titel 'Dialog 89'. Endlich tut sich etwas in Frankfurt/Oder -- und wir beschließen, diesen Anfang auf Film zu bannen.

Die Arbeiten für den Film 'Oktoberfrühling' beginnen am Morgen des 26. Oktober mit der Suche nach dem, der uns die Drehgenehmigung für die abendliche Dialogveranstaltung erteilt. Der Rat der Stadt, erfahren wir, ist nicht zuständig, der Klubhausleiter kann so etwas nicht entscheiden, der Sekretär des Kreisausschusses muss irgendwo Rücksprachen halten, ein um Hilfe gebetener Mitarbeiter der SED-Bezirksleitung ist skeptisch und will 'höherenorts' anfragen. Am Nachmittag liegen zwei Antworten vor: Der Kreisausschuss der Nationalen Front teilt mit, dass Dreharbeiten ausdrücklich erwünscht sind, die SED-Bezirksleitung lässt wissen, sie hätte kein Interesse.

Als wir am Abend mit unserer Kamera im Klubhaus erscheinen, werden wir mit der verwunderten Frage begrüßt, ob wir denn nicht erfahren hätten, dass die SED-Bezirksleitung kein Interesse hätte. Wir verweisen darauf, dass vielleicht die Bürger unserer Stadt daran Interesse hätten, und erfahren, dass die Dreharbeiten generell abgelehnt werden. Grund: Bürger im Saal würden sich vielleicht belästigt fühlen. Daraufhin verlangen wir eine demokratische Entscheidung durch die Teilnehmer der Veranstaltung selbst.

Die Veranstaltung 'Dialog 89' wird schließlich durch den Bürgermeister Fritz Krause mit der Frage eröffnet, ob jemand etwas gegen Kameras und Mikrofone hätte. Ein erster Erfolg der Demokratie -- und natürlich hatten die Frankfurter nichts dagegen. Wir nahmen diese Zustimmung als Auftrag für die Herstellung einer Filmdokumentation über die Herbstereignisse in Frankfurt/Oder. Mitte Dezember 1989 hatte der Film seine erste Aufführung. Damals empfanden wir den Titel 'Oktoberfrühling' als passend -- heute sehen wir manches bereits anders und der Film mutet an wie ein Bericht aus längst vergangenen Zeiten."

Jürgen Herrmann (Frankfurt/Oder)

Quelle: http://www.wir-waren-so-frei.de/index.ph...1197/set_id/226


 Antworten

 Beitrag melden
29.08.2010 12:33
avatar  Boelleronkel ( gelöscht )
#2
avatar
Boelleronkel ( gelöscht )

Die Zeiten werden Vielen noch in Erinnerung sein.
Die Menschen mussten "erst mal wieder lernen"offen zu reden,öffentlich... sprichwörtlich kein Blatt vor dem Mund zu haben.
Bis zu diesem Zeitpunkt gab es defakto Veranstaltungen dieser Art nicht und so ist es heute (also aus heutiger Sicht)auch nicht all zu wunderlich,das die Menschen auch sehr verunsichert waren und es "sprudelt" aus Jedem einfach das herraus,was für Ihn wichtig war.
Die Machtvertreter des Staates auf der einen,das Volk vom Lehrer bis zum Arbeiter auf der anderen Seite,eine absolut neues Situation,weil öffentlich.
Du siehst schon allein daran,ob gefilmt werden darf und die Frage wer will denn da filmen und wer entscheidet das gefilmt werden darf,da
war so viel Misstrauen unterwegs...aber...der Anfang war gemacht.


 Antworten

 Beitrag melden
Bereits Mitglied?
Jetzt anmelden!
Mitglied werden?
Jetzt registrieren!